Leben scheint mir oft wie ein Balanceakt. Ich wünsche mir aber auf festem Boden zu stehen, darin Ruhe und Sicherheit zu finden. Ich liebe Regeln, Falsch oder Richtig , Antworten auf Fragen und klare Ziele.
Solang die Tage nach meiner Planung und Vorstellung laufen bin ich sehr glücklich. Ich genieße die Menschen um mich herum, meine Arbeit und mich selber. Ich gestalte mein Leben wie es mir gefällt und habe auch das Gefühl es unter Kontrolle zu haben. Doch dann gibt es zwei große Arten von Erdbeben die mir den festen Boden unter den Füßen wegreißen können.
Das erste Erdbeben hat, wie es auch in der Natur ist, seinen Ursprung außerhalb von mir. Es kann ein großes, erdbebengleiches Erlebnis sein das mich erschüttern. Vielleicht ein Verlust oder ein gescheiterter Traum. Interessanterweise kann eine solche Erschütterung aber auch durch eine winzige Kleinigkeit ausgelöst werden. Die differierenden Vorstellungen eines anderen Menschen in meinem Umfeld, eine übergekochte Tomatensuppe oder ein zu voller Terminkalender. Und wenn ich über diese kleinen Auslöser rede, komme ich zu meiner zweiten Art von Erdbeben. Das zweite Erdbeben kann gewaltig sein, unberechenbar und unvorhersehbar. Der Ursprung ist in mir selber. Das Epizentrum, die erschüttertste Stelle, liegt direkt in meinem Kopf und meinem Bauch. Irgendetwas in mir wird berührt und eine Flut von Gefühlen, Gedanken und Frustration strömen durch meinen Körper. Früher haben mich diese Momente überwältigt. Ich hatte ja genaue Vorstellungen wie ich mich "richtig" fühlen muss und habe meine tatsächlichen Gefühle Verurteilt. Auf das schlechte Erlebnis wurden gleich noch eine Ladung Selbstvorwürfe und Notfallpläne zur sofortigen Lösung des Problems gepackt. Während ich diese Zeilen schreibe bringt es mich fast zum Weinen. Ich spüre den großen Druck und die Ängste, die ich in diesen Jahren erlebt habe. Wir Menschen sind so wundervoll gemacht, so wertvoll und einzigartig, und dennoch lassen wir uns erdrücken, uns den Glanz nehmen, von falschen Vorstellungen und Erwartungen.
Die Erdbeben kommen, die großen wie die Kleinen. Selbst die neuen Gedanken und neuen Freiheiten die ich bis heute verinnerlicht habe werden in einem schwachen Moment verdeckt und die alten Muster drängen sich an die Oberfläche. Heilung und Erneuerung braucht Zeit. Aber etwas entscheidendes hat sich verändert.
- Ich habe die Vorstellung losgelassen, dass das Leben immer nach meinen Vorstellungen laufen muss.
- Ich habe den Anspruch aufgegeben, immer in jedem Moment richtig funktionieren zu müssen.
- Ich habe akzeptiert, das auch die Menschen um mich herum nicht perfekt sind und Fehler machen
Ich möchte meinen neuen Stand mit zwei Bildern vergleichen. Eine Alternative zu dem festen Boden, auf dem ich von Natur aus am liebsten stehen würde. Das eine ist eine Schnur, auf der ich balanciere. Interessanterweise liebe ich balancieren. Wenn wir als Familie auf Spielplätzen unterwegs sind und es gibt etwas zum Balancieren, bin ich noch vor meinen Kindern dort zu finden. Dadurch ist mir dieses Bild vertraut. Beim Balancieren bin ich aufmerksam. Ich spüre in jeden Teil meines Körpers hinein um das Gleichgewicht halten zu können. Ich bewege mich langsam, aber ich komme vorwärts. Ich reagiere auf die Dinge um mich herum und entscheide in jedem Moment wieder neu, wie ich weitergehe. Früher dachte ich, es ist zu anstrengend immer wieder neu entscheiden zu müssen. Aber heute weiß ich, dass es mir meine ganze Kraft und das Leben geraubt hat, meinen festen Stand zu beschützen und zu verteidigen.
Es gibt nach wie vor Dinge, die als feste Regeln bleiben. Zum Beispiel, dass ich immer liebevoll mit mir und den Menschen um mich herum umgehen möchte. Aber alle Regeln kommen beim "in mich hinein spüren" auf den Prüfstand und werden neu bewertet. Was für eine Freiheit, was für eine Beweglichkeit, was für eine Lebendigkeit. Wie auf dem Seil komme ich nur langsam voran, manchmal zwei Schritte zurück und dann drei nach vorne. Aber ich versuche den Fortschritt nicht so viel zu bewerten, sondern lieber den Moment zu genießen.
Das zweite Bild fasziniert mich. Ein Vogel kann auf einer Hochspannungsleitung sitzen ohne sein Leben, seine Lebendigkeit zu verlieren. Ich habe wenig Ahnung von Physik, aber kluge Menschen haben herausgefunden, dass es daran liegt, das die Vögel nicht gleichzeitig den Boden und die Hochspannungsleitung berühren, nicht geerdet sind. Hier geht es um Leid, um Spannungen, in mir drin und um mich herum. Ich will alles verstehen, richtig bringen, kontrollieren – erden. Aber vielleicht liegt das Geheimnis darin mal loszulassen, auszuhalten, zu vergeben. Ich weiß, das ist nicht immer leicht. Aber wahrscheinlich der einzige Weg, frei zu sein wie ein Vogel.
Bei all diesen Dingen brauche ich ein bisschen mehr Vertrauen ins Leben, ein bisschen mehr Vertrauen, dass es schon gut sein wird. Auf der Schnur und auf der Hochspannungsleitung bin ich auf jedem Fall dem Himmel ein Stück näher als zuvor. Das macht es mir persönlich leichter zu vertrauen.
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Lena (Dienstag, 05 Oktober 2021 09:09)
wow, 2 wunderbare Bilder, die du mit deinen Worten gemalt. Sehr hilfreich, vielen Dank!